Regeln, Regelwerke und Reglements im Zeitalter der Aufklärung

Regeln, Regelwerke und Reglements im Zeitalter der Aufklärung

Organisatoren
Jürgen Overhoff, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Joachim Scholz, Ruhr-Universität Bochum (Rochow Kulturensemble Reckahn)
Ausrichter
Rochow Kulturensemble Reckahn
Förderer
Landkreis Potsdam-Mittelmark
PLZ
14797
Ort
Reckahn
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
21.09.2023 - 22.09.2023
Von
Alexander Lang, Institut für Erziehungswissenschaft, SFB 1567 "Virtuelle Lebenswelten", Ruhr-Universität Bochum

Im Rahmen der regelmäßig durchgeführten Tagungen im Rochow Kulturensemble in Reckahn fand am 21. und 22. September eine Tagung zum Thema Regeln im Zeitalter der Aufklärung statt. Die interdisziplinäre Konferenz mit Teilnehmer:innen aus Germanistik, Literaturwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Theologie, Musikwissenschaft und Geschichtswissenschaft untersuchte den Prozess der Regelung und Systematisierung, welcher sich im 18. Jahrhundert unter der Prämisse des Vernunftgebrauches vollzog. Bis dahin Ungeregeltes wurde im Zeitalter der Aufklärung neu kodifiziert oder erstmals festgeschrieben.

Im ersten Vortrag beschäftigte sich HOLGER BÖNING (Bremen) mit der Volksaufklärung und neuen Lebensregeln für die breite Bevölkerung in der populären Aufklärungsliteratur. Solche Literatur war eng mit der Landwirtschaft und deren Rationalisierung verbunden – also einer ökonomischen Aufklärung. Dies belegt eindrücklich das von Böning intensiv behandelte Buch „Der kluge Bauer“.1 Die bäuerliche Wirtschaft brauche, so heißt es darin, Klugheit und Regeln. Der selbstdenkende Mensch könne sich durch den Gebrauch des Verstandes kluge Lebensregeln selbst geben. Er müsse zum Selbstdenken und zur Eigenverantwortung geführt werden, da er von Gott den Verstand und den eigenen Willen bekommen hätte. Daraus ergebe sich die menschliche Freiheit im religiös begrenzten Rahmen. Hier machte Böning die Verbindung zwischen religiöser Normativität und freiheitlicher Vernunft deutlich, wie sie der klassischen Volksaufklärung des 18. Jahrhunderts eigen ist.

FRANK STÜCKEMANN (Bielefeld) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Regelhaftigkeit und dem Rhythmus der deutschen und französischen Dichtkunst im 18. Jahrhundert. Da die französischen Regeln nicht ohne weiteres ins Deutsche übertragen werden konnten, führte dies, so Stückemann, zu einer Beschränkung der deutschsprachigen Dichtkunst, von der sich erst die Romantik befreien konnte. Am Prozess der Übertragung konnte er zeigen, dass Regeln der Poesie an Sprache und Kultur gebunden sind. Besonders die Volkskultur und der Grad, in dem Tanz und Gesang in ihr verbreitet sind, kann einen Einfluss darauf haben.

Die zweite Sektion eröffnete MATTHIAS BICKENBACH (Köln) mit einem Beitrag zu den Regeln des Lesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beim Lesen kann ebenfalls eine Rationalisierung festgestellt werden. Mit der Explosion des Buchmarktes im 18. Jahrhundert verschob sich das Leseverhalten weg von einem mehrmaligen intensiven Lesen weniger Bücher hin zu einem eher schnellen und einmaligen Lesen von Unterhaltungsliteratur. Es entstanden so neue Regelhaftigkeiten wie das kursorische Lesen. Hier kann eine neue Ökonomie des Lesens ebenso wie ein neues Verhältnis zum Buch festgestellt werden. Der Bildungsroman „Anton Reiser“ gilt als Beispiel dafür.2

Im nächsten Vortrag beschäftigte sich REINHART SIEGERT (Freiburg) mit der versuchten Rechtschreibreform des Pädagogen und Mitarbeiters am Dessauer Philanthropin Christian Heinrich Wolke (1741–1825). Wolke wollte die deutsche Schriftsprache reformieren und vereinheitlichen. Er setzte sich dafür ein, dass beim Schreiben von der Aussprache ausgegangen werden solle und lediglich das tatsächlich Gesprochene auch geschrieben werde. Dehnungsbuchstaben beispielsweise sollten entfallen. Dies sollte die Schriftsprache im Sinne der Vernunft gleichzeitig vereinfachen und reglementieren. Die Bemühungen um neue Rechtschreibregeln blieben jedoch erfolglos und sein Konzept erntete vor allem Kritik (beispielsweise wegen der Inkompatibilität mit Dialekten).

Der auf der Tagung selbst abwesende LAURENZ LÜTTEKEN (Zürich), dessen Vortrag verlesen wurde, befasste sich mit dem aufgeklärten Musikschrifttum und Umgang mit Musik in Berlin. Die Musik als Wissenschaft hat eine lange Tradition, die sich beispielsweise in den artes liberales des Mittelalters widerspiegelt. Ab dem 18. Jahrhundert kann dann zunehmend von einer Regelgeleitetheit gesprochen werden, welche beispielsweise die Beherrschung eines Instrumentes reglementierte. Dies kann in zahlreichen Lehrbüchern, die in der Mitte des Jahrhunderts entstanden, wie beispielsweise Johann Quantz Flötenschule3 nachgewiesen werden. Berlin wurde dabei zu einem einzigartigen Ort der neuen Debatte über Regelsysteme und Urteil des guten Geschmacks – nicht zuletzt, weil die Stadt über keine musikgeschichtliche Tradition verfügte und hier neue Regelwerke im Sinne der Aufklärung geschaffen werden mussten.

Den Abschluss des ersten Tages bildete der Vortrag von ANNEDORE PRENGEL (Potsdam/Frankfurt am Main) über Lorraine Dastons jüngst erschienenes Buch „Rules“4 und dessen pädagogische Implikationen. Daston geht in ihrem Buch davon aus, dass jede Gesellschaft durch und auf der Grundlage von Regeln lebt. Es schloss sich eine lebhafte Diskussion über das Verhältnis von Praxis, Ethik und angewandter Ethik im Blickwinkel von Regeln an.

In der dritten Sektion stellte HANNO SCHMITT (Potsdam) die Regeln der 1773 am Tagungsort eröffneten berühmten philanthropischen Musterschule vor. Zentral für seinen Vortrag waren die zeitgenössischen Beschreibungen der Schule durch den Prediger Carl Friedrich Riemann (1756–1812).5 Das Regelwerk der Musterschule umfasste dabei nicht nur Verbote für den Unterricht, sondern ein breites Spektrum an Reglements, die sogar über den Schulhorizont hinausgingen. Die Regeln für den Unterricht, das Lernen und den Schulbetrieb spiegeln die Reformpädagogik des 18. Jahrhunderts wider.

Die vierte Sektion „Pädagogik“ eröffnete SEBASTIAN ENGELMANN (Karlsruhe) mit einem Vortrag über die wissenschaftliche Pädagogik am Beispiel August Hermann Niemeyers (1754–1828). Der noch weitgehend unsystematischen Lehrerbildung um 1800 wollte Niemeyer in seinem vielfach wiederaufgelegten Werk „Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Erzieher“6 (zuerst 1796) konkrete Anwendungsregeln geben. Seine normative Didaktik, die besonders aus Verhaltens- und Anstandsregeln besteht, wird im hinteren Teil durch einen von der Forschung bisher wenig beachteten Abschnitt zu Klugheitsregeln ergänzt. Diese beschreiben die Verbindung von allgemeinen Regeln mit individuellen Erfahrungen und der menschlichen Vernunft. Regeln seien, so Niemeyer, keine mechanische Regulierung, sondern stets in konkreten Umständen zu betrachten.

JOACHIM SCHOLZ (Bochum) und KATHARINA VOGEL (Bochum) sprachen in ihrem Vortrag über Regeln des Studierens um 1800. Der Wandel der Universitäten und damit neu entstandene Regeln schlugen sich besonders in Hodegetiken wie der des Johann Gottfried Kiesewetter (1766–1819)7 nieder. Der Hallenser Philosoph stellte in seinem Werk kleinteilige Regeln dafür auf, wie studiert werden solle. Die Regeln sind so detailliert, dass sie auch die Reglementierung des Kaffeekonsums oder von Spaziergängen vorsehen. Scholz und Vogel konnten durch Annotationen eines Studenten ebenfalls belegen, dass die Hodegetik Kiesewetters in der Praxis verwendet wurde und seine Regeln Beachtung fanden.

Die letzte Sektion eröffnete FRIEDERIKE FRENZEL (Münster) mit einem Vortrag zum Thema Regelverstoß als Ironie. Im Zentrum stand der Disput zwischen dem regelkonformen Wissenschaftler Albrecht von Haller (1708–1777) und dem ironischen Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), der sich vor allem in Publikationen und Rezensionen nachvollziehen lässt. In seinem spielerischen und spöttischen Regelverstoß machte La Mettrie auf das Paradoxon der Aufklärung aufmerksam: Ein umfassender Vernunftgebrauch steht auf der einen Seite einer Einschränkung des eigenen Handelns und Denkens auf der anderen Seite gegenüber.

HENDRIK HOLZMÜLLER (Münster) befasste sich mit der Rezeption und Adaption von Adolph Knigges (1752–1796) Benimmregeln in den Niederlanden. Der niederländische Herausgeber der übersetzten Benimmregeln Johann Hendrik Swildes (1745–1809) ergänzte sie um einen Kommentar, welcher sich mit der Revolution und den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in den Niederlanden der 1780er-Jahren befasste. Swildens liefert dabei eine Bestandsaufnahme der niederländischen Gesellschaft und gleichzeitig Regeln für eine Verständigung. Nicht zuletzt verfolgte er dabei einen politisch motivierten Nutzen und setzte auf ein göttliches Vernunftgesetz, das die Gesellschaft auf der Basis von Regeln verbessern sollte.

Der letzte Vortrag von JÜRGEN OVERHOFF (Münster) beschäftigte sich mit der Festschreibung der ersten Regeln für den Boxsport im Jahr 1743. Der Sport im Allgemeinen löste sich im Laufe der Frühen Neuzeit von seinen Ursprüngen in der kriegerischen Auseinandersetzung – dem Kampf – und wurde stattdessen zu einer spielerischen Möglichkeit des Ruhmgewinns und der zivilen Selbstbehauptung. Besonders der Boxkampf erfreute sich im frühneuzeitlichen Großbritannien wachsender Beliebtheit. Die ersten Regeln wurden dann schließlich vom Profiboxer John „Jack“ Broughton festgelegt, um die hohe Verletzungsgefahr einzudämmen. Sie beinhalteten, dass zum Beispiel Schläge unter die Gürtellinie verboten und unabhängige Schiedsrichter ernannt wurden. Overhoff argumentierte, dass die Broughton-Regeln eine Parabel auf die Gesellschaft darstellten, die dem Wunsch nach einem geregelten und zivilen Umgang zwischen Menschen im Sinne eines „Fair Play“ nachkämen.

Die Tagung machte deutlich, dass Regeln im betrachteten Zeitraum einen großen Facettenreichtum aufwiesen und dem sozialen Leben bis hin in einzelne Situationen Gestalt zu geben suchten. Ihre Bedeutung wuchs und erhielt unter aufgeklärten Vorzeichen eine spezifische vernunftorientierte Ausprägung. Als ein bald allgegenwärtiges soziales Konstrukt wirkten Regelwerke konstituierend und normativ. Zugleich macht der Blick auf Regeln, Regelwerke und Reglements im Zeitalter der Aufklärung die mit dem Thema verbundenen historischen Spannungsfelder der Zeit wie uneingeschränkte vernunftgeleitete Selbstständigkeit versus pietistische Beschränkung, aber auch allgemeine und zeitunabhängige Differenzen wie die zwischen allgemeingültigen und spezifischen Regeln sichtbar. In zukünftigen Studien zum 18. Jahrhundert und der Aufklärung sollten Regeln, Regelwerke und Reglements verstärkte Beachtung finden.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Vernunft und Verstandesgebrauch

Holger Böning (Bremen): Zwischen religiöser Tradition und vernunftgeleiteter Selbstbestimmung. Neue Lebens-, Sitten- und Klugheitsregeln für das ,Volk‘ in der populären aufklärerischen Literatur

Frank Stückemann (Bielefeld): Zwischen protestantischem Choral und Lyrik der Moderne. Entstehung und Veränderung des Regelwerks von gebundener Sprache in Frankreich und Deutschland.

Sektion II: Kulturtechniken und Kunstlehren: Lesen, Schreiben, Komponieren

Matthias Bickenbach (Köln): Veränderungen der Regeln des Lesens um 1770

Reinhart Siegert (Freiburg): Regeln. Christian Heinrich Wolkes Rechtschreibreform im Dessauer Philanthropin

Laurenz Lütteken (Zürich): Regeln der Musik? Zum Problem aufgeklärten Musikschrifttums am Beispiel Berlins

Annedore Prengel (Potsdam/Frankfurt am Main): Regeln im kulturellen pädagogischen Gedächtnis. Was Aufklärungs- und Bildungsforschung von Lorraine Dastons Rules lernen können

Sektion III: Reckahn

Hanno Schmitt (Potsdam): Die Regeln der 1773 gegründeten Reckahner Musterschule

Sektion IV: Pädagogik

Sebastian Engelmann (Karlsruhe): Idee und Umsetzung. Regeln wissenschaftlicher Pädagogik, das Beispiel Niemeyer

Joachim Scholz (Bochum) / Katharina Vogel (Bochum): „Sowohl in Rücksicht seiner wissenschaftlichen Ausbildung als in Rücksicht seiner andern Verhältnisse“. Regeln des Studierens um 1800

Sektion V: Geregeltes Verhalten

Friederike Frenzel (Münster): Satire, Ironie, Parodie. Vorurteilsfreiheit und Selbstreflexion als Ergebnisse des lustvollen Regelverstoßes.

Hendrik Holzmüller (Münster): Mit Knigges Regeln aus dem Bürgerkrieg? Johan Hendrik Swildens' Kommentar zum „Umgang mit Menschen“ von 1789

Jürgen Overhoff (Münster): Die Broughton Rules von 1743. Die ersten geschriebenen Regeln des modernen Boxsports

Anmerkungen:
1 Vgl. Oesterreich Landmann [Salomo Sachs], Der kluge Bauer. Oder ein Buch für den Bauer und Landmann, Bd. 1, Wien 1785.
2 Vgl. Ursula Renner-Henke, Vom Lesen erzählen. Anton Reisers Initiation in die Bücherwelt, in: Roland Borgards / Johannes Lehmann (Hrsg.), Diskrete Gebote. Festschrift für Heinrich Bosse, Würzburg 2002, S. 131–162.
3 Vgl. Johann J. Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Berlin 1752.
4 Vgl. Lorraine Daston, Rules. A Short History of What We Live By, Princeton 2022.
5 Vgl. Carl F. Riemann, Beschreibung der Reckanschen Schule, 3. Aufl., Berlin 1798.
6 Vgl. August H. Niemeyer, Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Erzieher, Halle 1796.
7 Vgl. Johann G. Kiesewetter, Lehrbuch der Hodegetik oder kurze Anweisung zum Studiren, Berlin 1811.